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Datum: 25.12.2024

Die Geheimnisse der Wolfenbütteler Hauptkirche

Sie hat als erster Kirchenneubau der Reformation Geschichte geschrieben und ist nach wie vor einer der großen touristischen Magnete in Wolfenbüttel: Die Kirche Beatae Mariae Virginis (der glückseligen Jungfrau Maria), die der Volksmund liebevoll ,Hauptkirche' nennt – im Gegensatz zur benachbarten ,Garnisonskirche' St. Trinitatis.

Beleuchtete Hauptkirche Wolfenbüttels in der Abenddämmerung. © Stadt Wolfenbüttel
Hauptkirche Beatae Mariae Virginis (BMV)

Doch obwohl sie mittlerweile millionenfach begangen wurde, gibt es in vielen Ecken Details, die nicht sofort ins Auge springen. Die aber trotzdem eine hochinteressante Geschichte haben. Wir haben mal hinter die Kulissen geschaut, den Geheimnissen der Hauptkirche nachgespürt. Diesmal bewusst vernachlässigt: Die bekannten Höhepunkte, also Hochaltar, Orgel und die Gruft der herzoglichen Familie.

Das Bild zeigt drei Personen, die neben einer Steinmauer mit einer komplizierten Schnitzerei stehen. Die Schnitzerei zeigt einen Vogel mit ausgebreiteten Flügeln, der von wirbelnden Mustern umgeben ist. Die Steinmauer scheint Teil eines historischen oder bedeutenden Gebäudes zu sein, möglicherweise einer Kirche oder eines Denkmals. Die Menschen sind um die Schnitzerei herum positioniert. © Frank Wöstmann
Links vom BMV-Haupteingang trafen sich (von links) Pfarrer Stefan Lauer, Küsterin Claudia Droste und Hartmut Klonk vom Kirchenvorstand. Der Eckstein ist mit einem Fabelwesen verziert, einige Steine darüber erkennt man Jona und den Wal

Begleitet wurden wir von Pfarrer Stefan Lauer, Küsterin Claudia Droste sowie Hartmut Klonk aus dem Kirchenvorstand. Die erste Station befindet sich draußen, wo das Trio zahllose Tiermotive zeigt, mit denen Steinmetze vor allem die Ecksteine an den Turmkanten verziert haben. „Diese reiche Bildsprache finden wir vor allem rund um das Westwerk“, erzählt Stefan Lauer. Die Menschen hätten Westen als Ort des Sonnenuntergangs stets bedrohlich empfunden. „Große Fische und Drachen sollten gegen die dort wohnenden Chaosmächte schützen.“ Auf den ersten Blick wirkt diese Einstellung fast heidnisch-abergläubisch, trotzdem finden sich in den Mauersteinen auch viele Bibelmotive. Zum Beispiel ist in 2,50 Meter Höhe Jona zu erkennen, der vom Wal auf den Strand gespuckt wird.

Drinnen geht es dann überraschend schlüpfrig los. „Wenn man sich die Engelbilder unter der Orgelempore genauer ansieht, bemerkt man einige freche Details“, sagt Hartmut Klonk. Die musizierenden Engel sind halbnackt, teils sogar recht frivol dargestellt. „Einst hatten Maler nicht viel Zeit, wie hier Heinrich Dedecke 78 Tafeln zu bemalen.“ Sie suchten sich daher Vorlagen, die schnell passend und von Gesellen vervollständigt werden konnten. Besonders auffällig ist das bei einem Engel an der Orgel geschehen: Er ist kaum bekleidet und sieht den Betrachter voll an. Die Flügel wirken wie angeklebt. Hartmut Klonk hat die Vorlage in Dresden entdeckt: „In der Gemäldegalerie Alter Meister findet man diese Figur auf Tintorettos ,Musizierende Frauen' wieder – natürlich ohne Flügel.“

Dieses Gemälde zeigt eine geflügelte Figur, die ein grünes Gewand trägt und mit einem Blumenkranz geschmückt ist. Sie halten eine Blume in der einen Hand und haben einen Korb mit Blumen zu ihren Füßen. Der Hintergrund ist schlicht, wodurch die Figur und die floralen Elemente besonders gut zur Geltung kommen. © Frank Wöstmann
Einer der fast schlüpfigen Engel unter der Orgel-Empore. Es geht das Gerücht, der dankbare Restaurator habe dem Körbchen neben Obst eine Flasche Jägermeister eingemalt. Sie sei später wieder entfernt worden.

Doch die Wolfenbütteler Tafeln bergen ein weiteres Rätsel. Jahrzehntelang galten sie als verschollen, 1981 wurden 24 von ihnen wiederentdeckt als umgedrehte Fußbodenbretter und Verschalung. Die Restaurierung war erst 2005 möglich, als die Curt Mast Jägermeister Stiftung Geld beisteuerte. „Es geht das Gerücht, dass der dankbare Restaurator einem gemalten Korb nicht nur Obst, sondern auch ein Fläschchen Jägermeister beigab“, erzählen die drei. Aus Gründen der historischen Klarheit wurde dies später korrigiert. „Von mir aus hätte die Flasche bleiben können“, sagt Lauer und lacht. „Eine lila Kuh wäre schlimmer gewesen.“

Das Bild zeigt eine Person, die einen alten, großen Metallbehälter mit Holzdeckel in der Hand hält. Auf der Vorderseite des Behälters befindet sich ein dekoratives Gemälde, das eine gekrönte Figur mit einem Kind darstellt, und unter den Figuren sind die Zahlen "1766" gemalt. © Frank Wöstmann
Stefan Lauer zeigt eine von zwei Pauken aus dem Jahre 1766. Sie sind mit Tierhaut bespannt, ihre Nutzung ist unbekannt.

Uneins sind die Herren bei der Frage, ob sich die Herzogsempore links oder rechts befunden hat. Beide Einbauten sind noch heute da. Links vom Altar befindet sch die Ausstellung zu Michael Prätorius. Der Aufstieg ist unproblematisch. Die rechte Prieche ist nur über eine enge und ausgetretene Wendeltreppe zu erreichen. Hier lagern einige Ausstattungsdetails, deren Verwendung noch diskutiert wird. Beispielsweise zwei Pauken aus dem Jahre 1766, mit Tierhaut bespannt. „Ihre ursprüngliche Nutzung ist unbekannt“, sagt der Pfarrer. Und ob links oder rechts: In jedem Fall saß der Herzog deutlich höher als der stehende Pfarrer in der Kanzel.

Das Bild zeigt zwei Personen, die auf einer oberen Ebene oder einem Balkon in einem großen, verzierten Gebäude stehen, wahrscheinlich einer Kirche oder Kathedrale. Sie blicken auf das Innere mit hohen Säulen, Kronleuchtern und Buntglasfenstern. Die Architektur ist detailliert und großartig, mit dekorativen Elementen an den Säulen und einer warmen, beleuchteten Atmosphäre, die durch die Kronleuchter geschaffen wird. © Frank Wöstmann
Von der Herzogsprieche hatte der Regent einen schönen Blick auf die Gemeinde und den polnischen Leuchter. Davon überzeugten sich (von links) Hartmut Klonk und Claudia Droste.

Der langwierige Kirchenbau geriet in die Wirren des 30-jährigen Krieges (1618 bis 1648), der als Auseinandersetzung um Religionen begonnen hatte. Vor der Kanzel rechts stehen an der Außenmauer die Grabplatten von Herzog Heinrich dem Jüngeren und seinen beiden gefallenen Söhnen sowie seiner zweiten Frau, Sophie von Polen. Heinrich war erzkatholisch und galt als einer der zahlreichen Gegner Martin Luthers. „Luthers berühmtes Traktat ,Wider den Hans Worst' bezog sich auf den Wolfenbütteler Heinrich“, erzählt Lauer, „der der letzte katholische Herzog in Norddeutschland war.“

Gleichwohl hört Hartmut Klonk bei Führungen oft die Frage der Besucher, ob die reiche Ausstattung der Kirche nicht doch den katholischen Stil aufnehme. „Sie fühlen sich an den süddeutschen Barock erinnert, aber das ist falsch.“ Vielmehr sei der Prunk ein Zeichen der Zeit gewesen. „Wir haben hier klar die bewegte Formensprache des Manierismus, also des Übergangs von der Renaissance zum Barock vor Augen.“

Das Bild zeigt eine kunstvoll verzierte religiöse Skulptur in einer Kirche oder Kathedrale, die von einem wunderschön gestalteten Metallzaun mit grünen und goldenen Akzenten umgeben ist. Die zentrale Figur ist eine gekleidete Person, die ein Buch in der Hand hält, mit einer Kinderfigur, die sich an ihr Gewand klammert. Der Zaun ist mit kunstvollen Schnörkeln, kleinen Statuen und Blumenmotiven verziert. © Frank Wöstmann
Die kunstvolle Einfassung der Taufe, die einst mitten in der Kirche stand. Das Becken selbst (die Fünte) steht auf einem Alabaster-Sockel und stammt vom herzoglichen Kanonengießer Cort Mente.

Beispiele für Prunk-Ausstattung sind der Leuchter und die Taufe. Es gab eine äußerst kunstvolle Taufe aus Alabaster, eine Stiftung der Herzogin Sophie, der Witwe von Herzog Heinrich Julius. Mit ihrem herrlichen Schmiederahmen habe sie selbstbewusst in der Kirchenmitte gestanden. „Doch als 1666 August der Jüngere beerdigt wurde, sollte eine sechsspännige Lafette mit seinem Sarg in die Kirche fahren“, berichtet Hartmut Klonk vom Quellenstudium. Solche Dimensionen kennt man heute nur noch von Staatsakten rund um das englische Königshaus. „Jedenfalls störte die Taufe und musste weg.“

Als Ausgleich bekam die Kirche die Bronzetaufe aus der Schlosskapelle und den Leuchter, der ebenfalls vorher in der Schlosskapelle hing. "Das war mal ein Geschenk der polnischen Prinzessin“, sagt Claudia Droste. Zudem verbriefte der Herzog ein interessantes Legat: „Die Kirche sollte für diesen Leuchter Wachskerzen bekommen, solange sie welche brauchte.“ Mittlerweile ist das glänzende Stück längst auf Strom umgestellt, die Kirche zahlt selbst.

Heute steht das Taufbecken auf dem geretteten Alabaster-Sockel von damals. „Die sogenannte Fünte wurde von Cort Mente gegossen, dem Wolfenbütteler Kanonengießer.“ Allein über das Bildprogramm des Rahmens sowie einen dort fehlenden Daumen könnte Stefan Lauer eine halbe Stunde Kurzweiliges erzählen.

Dieses Bild zeigt einen verzierten religiösen Altar oder Retabel, der sich wahrscheinlich in einer Kirche befindet. Die zentrale Figur ist eine Darstellung von Jesus Christus am Kreuz, umgeben von anderen religiösen Figuren und komplizierten Schnitzereien. Das Bauwerk ist reich verziert mit goldenen Akzenten, marmorartigen Säulen und detaillierten Skulpturen. © Frank Wöstmann
Der "Prager Altar" in der Hauptkirche ist ein geschnitztes Meisterwerk. Rechts auf der Ecke ist die Szene mit Simson zu sehen, der den Tempel der Philister zerstört.

So ganz kommen wir auf unserem Rundgang an einem Blick auf den Hochaltar aber nicht vorbei. Das stattliche Kunstwerk gehört eigentlich gar nicht hierher. Bei einem Besuch in Prag gab ihn Herzog Heinrich Julius für eine Kirche auf der dortigen ,Kleinseite' in Auftrag. Bald darauf starb er, die Fertigstellung verzögerte sich und fiel schließlich in den 30-jährigen Krieg. „Erst als die Herzogswitwe sich bereiterklärte, den Transport zu bezahlen, kam das Schnitzwerk nach Wolfenbüttel – seitdem heißt er bei uns der Prager Altar.“

Das Bild zeigt eine kunstvolle Skulptur im Barockstil mit zwei Figuren. Die Figuren sind in einer dynamischen Pose dargestellt, wobei eine Figur große zylindrische Objekte trägt und die andere Figur ein Buch mit einem Kreuz darauf hält. Die Skulptur ist reich verziert mit goldenen Akzenten und komplizierten Details, darunter Schnörkelarbeiten und Blumenmotive. Die Handwerkskunst und die Liebe zum Detail machen diese Skulptur zu einem interessanten Beispiel der Barockkunst. © Hartmut Klonk
Simson: Diese Kartusche des Altars zeigt den wiedererstarkten Simson, der den Tempel der Philister zerstört. Minimal bemalt, sind vier Personen zu erkennen

Neben den bekannten Darstellungen (Abendmahl, Kreuzigung etc.) fällt dabei eine runde Kartusche auf der rechten Seite ins Auge. Sie erinnert an die Geschichte des Simson im Alten Testament: Er wurde erst besiegbar, nachdem eine Frau ihm die Haare abgeschnitten hatte. Doch als sie nachwuchsen, rächte er sich an den Philistern und brachte ihren Tempel zum Einsturz. Genau diesen Moment hat der Künstler höchst plastisch eingefangen.

Übriges gibt es auch hier, im Inneren der Kirche, Anklänge an frühere, heidnische Einordnungen der höheren Welt. So findet man an vielen Ecken Darstellungen von Einhörnern und Eichhörnchen. „Einhörner standen für das Gute“, erklärt Hartmut Klonk. Ausgerechnet das putzige Eichhörnchen hingegen habe im damaligen Wertekanon den Teufel verkörpert. „Wegen der spitzen Ohren.“

Das Bild zeigt eine detaillierte Reliefskulptur, die eine Szene aus dem Letzten Abendmahl darstellt, einem bedeutenden Ereignis in der christlichen Tradition. Die Skulptur zeigt mehrere Figuren, die um einen Tisch sitzen, sich unterhalten und gemeinsam essen. Die Figuren sind mit Gewändern mit goldenen Akzenten geschmückt, und auf dem Tisch befindet sich eine zentrale Schale. Den Hintergrund bilden Bogenfenster mit Gitterdesign. Im Vordergrund ist ein schwarzes Objekt mit der Aufschrift "INRI" zu sehen, was eine Abkürzung des lateinischen Ausdrucks "Iesus Nazarenus, Rex Iudaeorum" ist, was "Jesus von Nazareth, König der Juden" bedeutet. © Frank Wöstmann
Das Abendmahl als geschnitzte 3D-Ansicht: Die Gesichter sind minimal bemalt, aber höchst ausdrucksvoll.

Viel gäbe es noch zu schreiben, zum Beispiel über die zahllosen Steinmetz-Zeichen, die für Abrechnungszwecke angebracht wurden; über ,blinde Flecke' der Fürstenkirche, in denen einst Hoheitszeichen hingen; über die gestohlene Generalsschärpe des ,tollen Christian', die wohl wegen der eingewirkten Goldfäden und ihrer Diamantsplitter Ziel von Einbrechern wurde. Aber wir wollen Gerhard Finck nicht vorgreifen. Der ehemalige Küster bietet an jedem zweiten Freitag im Monat um 17 Uhr kostenlose Führungen an. Anmeldungen sind nicht erforderlich. Treffpunkt ist der Haupteingang – gleich neben Jona und dem Wal.

Kontakt

Pfarramt Beatae Mariae Virginis