Die Geheimnisse der Wolfenbütteler Hauptkirche
Sie hat als erster Kirchenneubau der Reformation Geschichte geschrieben und ist nach wie vor einer der großen touristischen Magnete in Wolfenbüttel: Die Kirche Beatae Mariae Virginis (der glückseligen Jungfrau Maria), die der Volksmund liebevoll ,Hauptkirche' nennt – im Gegensatz zur benachbarten ,Garnisonskirche' St. Trinitatis.
Doch obwohl sie mittlerweile millionenfach begangen wurde, gibt es in vielen Ecken Details, die nicht sofort ins Auge springen. Die aber trotzdem eine hochinteressante Geschichte haben. Wir haben mal hinter die Kulissen geschaut, den Geheimnissen der Hauptkirche nachgespürt. Diesmal bewusst vernachlässigt: Die bekannten Höhepunkte, also Hochaltar, Orgel und die Gruft der herzoglichen Familie.
Begleitet wurden wir von Pfarrer Stefan Lauer, Küsterin Claudia Droste sowie Hartmut Klonk aus dem Kirchenvorstand. Die erste Station befindet sich draußen, wo das Trio zahllose Tiermotive zeigt, mit denen Steinmetze vor allem die Ecksteine an den Turmkanten verziert haben. „Diese reiche Bildsprache finden wir vor allem rund um das Westwerk“, erzählt Stefan Lauer. Die Menschen hätten Westen als Ort des Sonnenuntergangs stets bedrohlich empfunden. „Große Fische und Drachen sollten gegen die dort wohnenden Chaosmächte schützen.“ Auf den ersten Blick wirkt diese Einstellung fast heidnisch-abergläubisch, trotzdem finden sich in den Mauersteinen auch viele Bibelmotive. Zum Beispiel ist in 2,50 Meter Höhe Jona zu erkennen, der vom Wal auf den Strand gespuckt wird.
Drinnen geht es dann überraschend schlüpfrig los. „Wenn man sich die Engelbilder unter der Orgelempore genauer ansieht, bemerkt man einige freche Details“, sagt Hartmut Klonk. Die musizierenden Engel sind halbnackt, teils sogar recht frivol dargestellt. „Einst hatten Maler nicht viel Zeit, wie hier Heinrich Dedecke 78 Tafeln zu bemalen.“ Sie suchten sich daher Vorlagen, die schnell passend und von Gesellen vervollständigt werden konnten. Besonders auffällig ist das bei einem Engel an der Orgel geschehen: Er ist kaum bekleidet und sieht den Betrachter voll an. Die Flügel wirken wie angeklebt. Hartmut Klonk hat die Vorlage in Dresden entdeckt: „In der Gemäldegalerie Alter Meister findet man diese Figur auf Tintorettos ,Musizierende Frauen' wieder – natürlich ohne Flügel.“
Doch die Wolfenbütteler Tafeln bergen ein weiteres Rätsel. Jahrzehntelang galten sie als verschollen, 1981 wurden 24 von ihnen wiederentdeckt als umgedrehte Fußbodenbretter und Verschalung. Die Restaurierung war erst 2005 möglich, als die Curt Mast Jägermeister Stiftung Geld beisteuerte. „Es geht das Gerücht, dass der dankbare Restaurator einem gemalten Korb nicht nur Obst, sondern auch ein Fläschchen Jägermeister beigab“, erzählen die drei. Aus Gründen der historischen Klarheit wurde dies später korrigiert. „Von mir aus hätte die Flasche bleiben können“, sagt Lauer und lacht. „Eine lila Kuh wäre schlimmer gewesen.“
Uneins sind die Herren bei der Frage, ob sich die Herzogsempore links oder rechts befunden hat. Beide Einbauten sind noch heute da. Links vom Altar befindet sch die Ausstellung zu Michael Prätorius. Der Aufstieg ist unproblematisch. Die rechte Prieche ist nur über eine enge und ausgetretene Wendeltreppe zu erreichen. Hier lagern einige Ausstattungsdetails, deren Verwendung noch diskutiert wird. Beispielsweise zwei Pauken aus dem Jahre 1766, mit Tierhaut bespannt. „Ihre ursprüngliche Nutzung ist unbekannt“, sagt der Pfarrer. Und ob links oder rechts: In jedem Fall saß der Herzog deutlich höher als der stehende Pfarrer in der Kanzel.
Der langwierige Kirchenbau geriet in die Wirren des 30-jährigen Krieges (1618 bis 1648), der als Auseinandersetzung um Religionen begonnen hatte. Vor der Kanzel rechts stehen an der Außenmauer die Grabplatten von Herzog Heinrich dem Jüngeren und seinen beiden gefallenen Söhnen sowie seiner zweiten Frau, Sophie von Polen. Heinrich war erzkatholisch und galt als einer der zahlreichen Gegner Martin Luthers. „Luthers berühmtes Traktat ,Wider den Hans Worst' bezog sich auf den Wolfenbütteler Heinrich“, erzählt Lauer, „der der letzte katholische Herzog in Norddeutschland war.“
Gleichwohl hört Hartmut Klonk bei Führungen oft die Frage der Besucher, ob die reiche Ausstattung der Kirche nicht doch den katholischen Stil aufnehme. „Sie fühlen sich an den süddeutschen Barock erinnert, aber das ist falsch.“ Vielmehr sei der Prunk ein Zeichen der Zeit gewesen. „Wir haben hier klar die bewegte Formensprache des Manierismus, also des Übergangs von der Renaissance zum Barock vor Augen.“
Beispiele für Prunk-Ausstattung sind der Leuchter und die Taufe. Es gab eine äußerst kunstvolle Taufe aus Alabaster, eine Stiftung der Herzogin Sophie, der Witwe von Herzog Heinrich Julius. Mit ihrem herrlichen Schmiederahmen habe sie selbstbewusst in der Kirchenmitte gestanden. „Doch als 1666 August der Jüngere beerdigt wurde, sollte eine sechsspännige Lafette mit seinem Sarg in die Kirche fahren“, berichtet Hartmut Klonk vom Quellenstudium. Solche Dimensionen kennt man heute nur noch von Staatsakten rund um das englische Königshaus. „Jedenfalls störte die Taufe und musste weg.“
Als Ausgleich bekam die Kirche die Bronzetaufe aus der Schlosskapelle und den Leuchter, der ebenfalls vorher in der Schlosskapelle hing. "Das war mal ein Geschenk der polnischen Prinzessin“, sagt Claudia Droste. Zudem verbriefte der Herzog ein interessantes Legat: „Die Kirche sollte für diesen Leuchter Wachskerzen bekommen, solange sie welche brauchte.“ Mittlerweile ist das glänzende Stück längst auf Strom umgestellt, die Kirche zahlt selbst.
Heute steht das Taufbecken auf dem geretteten Alabaster-Sockel von damals. „Die sogenannte Fünte wurde von Cort Mente gegossen, dem Wolfenbütteler Kanonengießer.“ Allein über das Bildprogramm des Rahmens sowie einen dort fehlenden Daumen könnte Stefan Lauer eine halbe Stunde Kurzweiliges erzählen.
So ganz kommen wir auf unserem Rundgang an einem Blick auf den Hochaltar aber nicht vorbei. Das stattliche Kunstwerk gehört eigentlich gar nicht hierher. Bei einem Besuch in Prag gab ihn Herzog Heinrich Julius für eine Kirche auf der dortigen ,Kleinseite' in Auftrag. Bald darauf starb er, die Fertigstellung verzögerte sich und fiel schließlich in den 30-jährigen Krieg. „Erst als die Herzogswitwe sich bereiterklärte, den Transport zu bezahlen, kam das Schnitzwerk nach Wolfenbüttel – seitdem heißt er bei uns der Prager Altar.“
Neben den bekannten Darstellungen (Abendmahl, Kreuzigung etc.) fällt dabei eine runde Kartusche auf der rechten Seite ins Auge. Sie erinnert an die Geschichte des Simson im Alten Testament: Er wurde erst besiegbar, nachdem eine Frau ihm die Haare abgeschnitten hatte. Doch als sie nachwuchsen, rächte er sich an den Philistern und brachte ihren Tempel zum Einsturz. Genau diesen Moment hat der Künstler höchst plastisch eingefangen.
Übriges gibt es auch hier, im Inneren der Kirche, Anklänge an frühere, heidnische Einordnungen der höheren Welt. So findet man an vielen Ecken Darstellungen von Einhörnern und Eichhörnchen. „Einhörner standen für das Gute“, erklärt Hartmut Klonk. Ausgerechnet das putzige Eichhörnchen hingegen habe im damaligen Wertekanon den Teufel verkörpert. „Wegen der spitzen Ohren.“
Viel gäbe es noch zu schreiben, zum Beispiel über die zahllosen Steinmetz-Zeichen, die für Abrechnungszwecke angebracht wurden; über ,blinde Flecke' der Fürstenkirche, in denen einst Hoheitszeichen hingen; über die gestohlene Generalsschärpe des ,tollen Christian', die wohl wegen der eingewirkten Goldfäden und ihrer Diamantsplitter Ziel von Einbrechern wurde. Aber wir wollen Gerhard Finck nicht vorgreifen. Der ehemalige Küster bietet an jedem zweiten Freitag im Monat um 17 Uhr kostenlose Führungen an. Anmeldungen sind nicht erforderlich. Treffpunkt ist der Haupteingang – gleich neben Jona und dem Wal.