Lieselotte Boas
Liselotte Maschke (sie wurde später Samson genannt, denn ihre Mutter war eine geborene Samson und mit Dr. Max Maschke verheiratet), geboren am 29. Dezember 1903, war in der siebten Generation das letzte Mitglied der Wolfenbütteler Linie des Gumpel Fulda ben Mose. Familie Maschke verband eine jahrzehntelange Freundschaft mit der jüdischen Familie Reis, deren Tochter Lieselotte gleichaltrig mit Liselotte war. Liselotte Maschke wanderte in der Nazizeit nach Paris aus. Dort heiratete sie Dr. Ernest Boas. Er war in einer jüdischen Familie am 28. April 1900 in Berlin geboren. 1918 machte er Abitur und ging zur Kriegsmarine. Nach dem Maschinenbau-Studium in Berlin arbeitete er für einige Jahre in Indonesien, ging dann nach Frankreich, wo er die französische Staatsbürgerschaft erhielt. Im Mai 1940, nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht, erfolgte die Flucht über die Pyrenäen nach Portugal, wo das Ehepaar Visa für die Einreise nach Brasilien erhielt. Sie ließen sich in Sao Paulo nieder. Die Ehe war glücklich, blieb aber kinderlos. Im Jahr 1949 starb Liselotte und so erlosch der Familienzweig der Wolfenbütteler Samson-Familie.
Der Vorfahre von Lieselotte, Lippmann Reis (1788–1851), war Anfang des 19. Jahrhunderts aus Hildesheim nach Wolfenbüttel gekommen, um das neugeschaffene Amt des Hofbankiers anzutreten. Später führte er eine wesentliche Verbesserung der Braunschweiger Staatslotterie ein. Sein Sohn Nathan wurde Nachfolger als Lotterie-Kollektor. Nathan Reis hatte vier Töchter und bekam dann Sohn Erich, der auch Lotterie-Kollektor wurde. Im Ersten Weltkrieg wurde die Lotterie, die inzwischen ein Teil der preußischen Staatslotterie geworden war, eingestellt. Erst 1923 nach der Umstellung auf neue Rentenmark wurde die Lotterie wieder aktiv. Erich Reis war 1921 verstorben, sein ältester Sohn studierte Medizin und der jüngste Sohn ging noch zur Schule. So wurde das Amt des Lotterie-Kollektors der Witwe angeboten. Sie setzte ihre Tochter Lieselotte als Geschäftsführerin ein.
Lieselotte hatte die Anna-Vorwerk-Schule in Wolfenbüttel erfolgreich abgeschlossen und war dann zur höheren Handelsschule nach Hannover gegangen, wo sie das moderne Abrechnungswesen und die Methoden des Marketings erlernte. So war sie gut auf ihre Tätigkeit vorbereitet. Binnen kurzem konnte sie die Teilnehmerzahl der Lotteriespieler beträchtlich erweitern. Doch als die Nazis an die Regierung kamen, erwies sich das als Nachteil, denn eine so bekannte Familie wurde eines ihrer ersten Opfer. 1933 wurde Lieselotte Reis die Lotterieverwaltung entzogen. Gleichzeitig musste sie das seit über 100 Jahren der Familie gehörende Haus in der Langen Herzogstraße 26 verkaufen. „Arische Nachbarn“ erwarben es zu einem „sehr günstigen Preis“.
Daraufhin entschloss sie sich, das Land zu verlassen und weit weg nach Übersee zu gehen. Aber vorher wollte sie etwas von Grund auf lernen, um sich im neuen Land selbstständig betätigen zu können. Sie wählte die Kosmetikbranche, die sich in den vergangenen 10 Jahren weltweit entwickelt hatte. Nachdem sie 1936 ihr Diplom erhalten hatte, wanderte sie mit ihrer Mutter nach Brasilien aus. Auch für ihre beiden Brüder hatte sie eine Versorgung im Ausland gefunden. Durch ihren Fleiß und ihre Ausdauer gelang es ihr, aus dem Nichts ein Unternehmen aufzubauen.
Ihre alte Spielkameradin und langjährige Freundin, Liselotte Boas-Maschke (genannt Samson-Boas) und ihr Mann Ernest trafen auch in Sao Paulo ein. Es war ein harmonisches lebensfrohes Kleeblatt, das nur wenige gemeinsame Jahre hatte, denn Liselotte erkrankte an Krebs und starb 1949. Fünf Jahre danach heirateten Lieselotte Reis und Dr. Ernest Boas. Sie bekamen drei Kinder. Ihren Lebensabend verbrachten sie in der französischen Schweiz und widmeten sich der Aufgabe, den Vertriebenen und Umgekommenen der Nazi-Verfolgung ein bleibendes Denkmal zu setzen. 1998 verstarb Ernest Boas, Lieselotte hundertjährig im Jahr 2003. Beide sind gemäß ihrem Wunsch auf dem jüdischen Friedhof in Wolfenbüttel beigesetzt. Ihrer Initiative ist es zu verdanken, dass er nach der Zerstörung vom 9. November 1938 wieder hergestellt wurde. Gabriele Drewes