Pistorius fordert: Müssen wieder abschrecken können
Rund 550 Besucherinnen und Besucher wollten ihn am vergangenen Dienstag, 29. Oktober 2024, in der Wolfenbütteler Lindenhalle hören und sehen – Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius. Der frühere Osnabrücker Oberbürgermeister und langjährige Niedersächsische Innenminister war im Rahmen der „Wolfenbütteler Begegnungen“ zu Gast. Unter dem Titel „Den Frieden sichern!“ hielt er einen Vortrag über die gegenwärtige Sicherheitslage in der Welt und anschließend diskutierte er mit dem Publikum und trug sich auch in das Goldene Buch der Stadt ein.
Die „Wolfenbütteler Begegnungen“ sind eine von der SPD-Bundestagsabgeordneten Dunja Kreiser initiierte und von der Herzog-August-Bibliothek, der Bundesakademie für kulturelle Bildung, der Friedrich-Ebert-Stiftung und Wilhelm Schmidt, Bundestagsabgeordneter a.D., getragene Vortrags- und Diskussionsreihe. Moderiert wurde die Veranstaltung durch Armin Maus, Sprecher der Autostadt Wolfsburg.
Das gewählte Thema konnte ernster und auch hochaktueller kaum sein. Vor dem Hintergrund der Aggression Russlands steht auch Deutschland wir vor einer notwendigen Neuvermessung der Sicherheitsordnung. Viele sind besorgt angesichts der andauernden Auseinandersetzungen in der Ukraine. Am 12. Juni 2024 hat Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius seinen Entwurf zum „Neuen Wehrdienst“ vorgelegt. Dieser sieht vor, dass junge Männer und Frauen einen Fragebogen ausfüllen und sich damit auch gleichzeitig mit der elementaren Frage auseinandersetzen: Wer sichert den Frieden? Ein Thema, also das uns alle angeht, das uns alle berührt, das manche ängstigt.
„In meiner täglichen Arbeit als Verteidigungsminister bin ich tatsächlich buchstäblich täglich mit dieser Frage konfrontiert. In einer Welt, in der wir mit so massiven Krisen, Konflikten und Kriegen konfrontiert sind, Sie können es mir glauben, das ist keine leichte Aufgabe“, betonte Pistorius. Der Beginn des Angriffskrieges Putins gegen die Ukraine vor bald drei Jahren habe uns in Deutschland wachgerüttelt. Aufgeweckt, wenn man so will. Allerdings gehöre zur Wahrheit dazu: „Wir waren damit gerade nicht unter den Frühaufstehern“, gab Pistorius zu.
Während die skandinavischen Länder, das Baltikum und Polen, viel früher die Signale wahrgenommen hätten und deutlich schneller darauf reagiert hätten - durch vielerlei Maßnahmen von der Wiedereinführung von Wehrdienst und Wehrpflicht bis hin zur Ausstattung ihrer Streitkräfte, hätte sich unter anderem Deutschland den Luxus gegönnt, die Snoozetaste zu drücken und sich nochmal umzudrehen. „Das hat uns acht Jahre gekostet, die uns heute fehlen“, so der Verteidigungsminister, „wir haben acht Jahre lang einfach nur an unsere Sicherheit geglaubt, anstatt in sie zu investieren. Erst Putins Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 habe das geändert.
„Dieser Krieg ist noch heute genauso verbrecherisch und maximal brutal wie an seinem ersten Tag. Und er führt uns jeden Tag vor Augen, wie schnell auch unser Frieden und eben auch unsere Freiheit damit attackiert oder im schlimmsten Fall zertrümmert werden können“, sagt Pistorius. Er nannte auch Zahlen: Russland habe heute bereits 1,3 Millionen Soldaten. Tendenz steigend. Das Ziel seien 1,6 Millionen bis Ende nächsten Jahres, Anfang 2026. Putin schaffe damit die personellen Voraussetzungen, die es ihm ermöglichen würden, „um es vorsichtig zu formulieren, einen NATO-Staat anzugreifen“, so der Gastredner, „seine imperialistischen Aussagen, seine immer wiederkehrenden Drohungen, mal stärker, mal weniger stark, zweigen seine Geisteshaltung, aber auch seinen Blick auf die Welt. Eine Welt, in der die Regeln des internationalen Rechts für ihn nicht gelten. Eine Welt, in der er sich das Recht nimmt, weil er glaubt, es zu können, erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder Grenzen eines souveränen Staates verschieben zu können, weil er es will.“
Und er gebe so viel Geld aus für den Krieg, die Produktion von Panzern, Raketen und die Rekrutierung neuer Soldaten, wie niemals zuvor seit dem Ende der Sowjetunion, also seit fast 30 Jahren. Das zeigten auch die jüngsten Haushaltspläne der russischen Regierung. Der Etat für Rüstung solle im nächsten Jahr noch einmal um 25 Prozent steigen. Damit wären die russischen Ausgaben in diesem Bereich mehr als doppelt so hoch, wie die Ausgaben im sozialen Bereich. Und machten mehr als sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Deutschland liege gerade einmal bei zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Die jüngsten Nachrichten, dass nun auch nordkoreanische Soldaten Russlands Krieg vor Ort unterstützen, zeigten noch einmal, wie skrupellos und grenzenlos kalkulierend Putin vorgehe. Ohne Rücksicht auf weitere globale Konflikte, die das hervorrufen könnte.
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Wenn wir also über die Instrumente, die Frieden sichern helfen reden wollen, dann gibt es drei Elemente, die heute in unserer Zeit im Mittelpunkt stehen müssen. Das ist zum einen immer eine kluge, vorausschauende Politik, die dann, solange es noch geht, auf Deeskalation setzt, auf Annäherung, aber auch auf Abgrenzung, wenn nötig. Da gehört eine kluge Diplomatie dazu. Aber wichtig ist auch, und das wird in diesen Zeiten, in denen über Radwege in Peru gelästert wird, schnell vergessen, es geht eben auch um die gut aufgestellte Entwicklungs- und Stabilisierungszusammenarbeit, Entwicklungszusammenarbeit in den Ländern des globalen Südens. Denn jede Destabilisierung in diesen Regionen führt heute immer auch schnell zu Einflüssen auf unsere Stabilität und auf unsere Art zu leben. Und das dritte Element ist militärische Abschreckung. Dieses Wort ist hässlich, übrigens genauso wie das Wort, was nachher noch einmal kommt, Kriegstüchtigkeit, das ist auch hässlich. Aber es ist notwendig, um uns vor Augen zu führen, wir können uns auch gerne verteidigungsfähig nennen, ich bin da leidenschaftslos. Entscheidend ist nur, dass wir verstehen, dass wir abschrecken können müssen. Und zwar glaubhaft, im Sinne von, wir können es, und glaubhaft im Sinne von, wir zeigen, dass wir es auch wollen würden“, machte Pistorius klar.
Das sei das Prinzip von Abschreckung. Oder wie es die alten Römer gesagt hätten, bereite den Krieg vor, wenn du Frieden willst. Das passe nicht mehr in unsere Sprache, aber es sage nichts anderes aus als sei vorbereitet, dich wehren zu müssen, wenn du es musst, damit du es niemals musst. Gleichzeitig dürften wir uns keiner Illusion hingeben: „Diplomatie allein kann keinen Frieden erhalten und kann auch den Konflikt in der Ukraine nicht lösen. Ich wiederhole den Satz nochmal, damit mich niemand falsch interpretiert. Diplomatie allein kann diesen Konflikt nicht lösen. Es braucht eben auch die militärische Stärke und die Abschreckungskraft“, unterstrich Boris Pistorius. Verhandlungen und Dialog blieben natürlich essenziell, doch sie hätten nur Gewicht, wenn wir auch über die Mittel verfügten, unser Land und unsere Werte zu schätzen und die Gegenseite das wisse.
„Meine Damen und Herren, in meinem Amt als Verteidigungsminister kommt es in den letzten Wochen und Monaten immer wieder dazu, dass ich als Kriegstreiber bezeichnet werde. Und ich sage Ihnen ganz ehrlich, auch wenn ich ein dickes Fell habe nach vielen Jahren Politik, dann ist das ein Vorwurf, der mich trifft. Einmal wegen meiner Herkunft aus Osnabrück. Als tief verwurzelter Demokrat, als Transatlantiker, als Europäer, der weiß, welchen Wert 70 Jahre Frieden in Europa haben und wie wichtig dieser Frieden war für unsere Entwicklung und für unseren Wohlstand. Aber nicht nur in dieser Rolle, sondern auch als Rolle als Vater und Großvater. Wer kann mir denn ernsthaft unterstellen, dass ich Krieg wolle? Ich möchte, dass meine Enkelkinder in einer genauso sicheren Welt aufwachsen können und erwachsen werden können“, erklärte der Minister.
„Ich habe darauf wie viele andere auch vertraut haben, dass wir in Dekaden hineinwachsen, in denen wir uns nie wieder mit Krieg in Europa beschäftigen müssen, in denen wir eine Bundeswehr nur brauchen als internationale Kriseninterventions- und Mandatsarmee. Und wir haben alle, wenn wir ehrlich sind, gut davon gelebt in diesen 35 Jahren. Die Sirenen in Wolfenbüttel und anderswo wurden abgebaut, Bunker wurden geschlossen, Kasernen wurden geschlossen. Wir haben alle davon profitiert. So manches Gewerbe- und Wohngebiet gäbe es heute nicht, wenn die Kasernen noch da wären, wo sie damals gewesen sind. Und heute erleben wir wieder Zeiten einer neuen Bedrohung. Und jetzt heißt es Vollbremsung und den gegenteiligen Kurs einlegen. Wir müssen wieder mehr investieren in unsere Verteidigungsfähigkeit, in unsere Streitkräfte, übrigens auch in unseren Zivilschutz. Und deswegen ist meine Aufgabe und mein Anspruch als Verteidigungsminister mit dieser Bundesregierung den Frieden zu sichern und zu verteidigen.“
Alle Entscheidungen, die wir heute träfen oder nicht träfen, bei Beschaffung, bei Struktur der Streitkräfte, beim Bündnis, hätten im Zweifel Konsequenzen für unsere Kinder und Enkelkinder. „Wir müssen uns der russischen Bedrohung deshalb konsequent entgegenstellen und gleichzeitig unsere Verteidigungsfähigkeiten stärken und das schnell. Wir brauchen eine Bundeswehr, die so aufgestellt ist und ausgestattet ist, dass sie gemeinsam, und darum geht es immer und immer wieder, gemeinsam mit unseren Alliierten uns in einem Krieg verteidigen kann. Idealerweise aber durch die Abschreckungsfähigkeit verhindert, dass irgendjemand auf die Idee kommt, uns anzugreifen. Das wäre mir das Liebste, dass niemals ein deutscher Soldat, eine deutsche Soldatin an irgendeine Front gehen muss, weil wir verhindert haben durch unsere militärische Stärke und Entschlossenheit, dass es überhaupt zu einer militärischen Auseinandersetzung kommt“, machte Pistorius klar.
Es nütze aber auch nichts, wenn wir in einem Land leben würden, in dem die Digitalisierung plötzlich funktioniere und die Bahn pünktlich fahre, wenn wir nicht in der Lage wären, das alles auch zu verteidigen. Und deswegen sei es so wichtig, sich einen Satz immer wieder in Erinnerung zu rufen: Ohne Sicherheit ist alles andere nichts. „Deswegen setze ich mich sehr dafür ein, dass unser Verteidigungshaushalt in den kommenden Jahren weiter steigt. Und das gilt vor allen Dingen und gerade dann, wenn das Sondervermögen verbraucht sein wird, und wir werden es bis Ende des Jahres zu fast 85 Prozent verausgabt haben. Das hat uns, als ich ins Amt kam, niemandem zugetraut. Die Aufträge sind erteilt. Das heißt, jetzt läuft das Material zu, leider nicht so wie beim Online-Versandhändler. Heute Klick, morgen auf den Hof. Panzer, Fregatten, U-Boote, Munition braucht Zeit, bis es produziert ist. Aber es geht voran, es wird geliefert.“
Ein wichtiger Aspekt sei natürlich auch das benötigte Personal. „Im Juni dieses Jahres habe ich vorgeschlagen, einen sogenannten neuen Wehrdienst einzuführen. Im Moment sind wir gar nicht vorbereitet. Wenn morgen ein Ernst der Ernst Fall einträte, hätte ich keine Möglichkeit zu mobilisieren, weil ich keine Daten habe. Es gibt keine Wehrerfassung mehr seit der Aussetzung des Wehrdienstes 2011. Die Regierung, die damals den Wehrdienst ausgesetzt hat, hat ganze Arbeit geleistet, indem die gesamte Wehrerfassung auch abgeschafft worden ist. Und die gesamte Wehrüberwachung, das heißt das das Betreuen derjenigen, die in der Reserve sind, ebenfalls gleich mit abgeschafft worden ist. Zusätzlich wurden seitdem Ausbildungskapazitäten abgebaut. Hunderte von Kasernen in Deutschland, die es damals gab, gibt es heute nicht mehr. Ausbilder gibt es nicht mehr, Material zur Ausbildung gibt es nicht mehr. Das heißt, das ist im Grunde genommen die limitierende Größe, was das Format eines neuen Wehrdienstes beschränkt. Und diese Kapazitäten, von denen ich spreche, Kasernen, Ausbilder, Material, werden wir nicht über Nacht herbeizaubern können, das wird Jahre dauern. Deshalb müssen wir heute in Friedenszeiten dennoch dafür sorgen, dass die Zahl unserer Männer und Frauen in den Streitkräften im Ernstfall schnell wachsen kann“, gab Pistorius die Marschrichtung vor.
Das Bundesverteidigungsministerium wolle daher künftig an alle 18 Jahre alt werdenden Männer und Frauen einen digitalen Fragebogen versenden. Die jungen Männer müssten ihn ausfüllen, der Wehrpflicht folgend, die Frauen dürften ihn ausfüllen. „Und mit diesem Modell der Freiwilligkeit haben andere Länder gute Erfahrungen gemacht. Wir sind sehr davon überzeugt, dass wir damit die Zahlen aufwachsen lassen können. Und das Entscheidende ist, dieser Wehrdienst soll nichts zu tun haben mit dem Wehrdienst, den der ein oder andere hier vielleicht abgeleistet hat. Wir wollen einen sinnstiftenden Wehrdienst machen. Wir wollen es mit Ausbildungselementen versehen. Wir wollen Angebote machen. Sechs Monate Basiswehrdienst und dann kann man draufsatteln bis zu 23 Monate. Zwölf Monate zum Beispiel ist eine beliebte Größenordnung, wo man dann eben bestimmte Skills mitkriegt. Einen Autoführerschein, einen Lkw-Führerschein. Nicht, weil wir etwas verschenken wollen, sondern weil wir diese Leute dann ja später auch aus der Reserve ziehen wollen, die dann einen Pkw, einen Lkw fahren können oder eben auch, wenn sie ihn gemacht haben, mit einem Panzerführerschein einen Panzer fahren können. Das heißt, alle haben etwas davon. Die Schweden sagen das etwas euphorischer als wir nüchternen Deutschen. Die Schweden sagen, wir versprechen dir das beste Jahr deines bisherigen Lebens. Das funktioniert. Weil die jungen Leute, und das sind Männer und Frauen, die leisten nicht irgendeinen sinnlosen, langweiligen, stupiden Dienst, sondern sie übernehmen Verantwortung. Das heißt, es wird ihnen etwas zugetraut, wofür sie ausgebildet werden und wofür sie Verantwortung übernehmen“, stellte Pistorius seine Pläne vor.
„Wir setzen klar auf Freiwilligkeit und ich bin zuversichtlich, dass sich mehr Freiwillige melden werden, als wir im Augenblick überhaupt Kapazitäten haben. Ich bin überzeugt, dass wir durch den Wehrdienst und die Tatsache, dass jeder 18-Jährige so einen Fragebogen bekommt und wir ihn damit veranlassen, sich mit dem Thema überhaupt zu beschäftigen, schon das Interesse wecken. Und auch die Frage, wer verteidigt eigentlich dieses Land, dieses großartige Land, in dem wir leben. Sicherheit ist ein extrem kostbares Gut und eines der existenziellen Wünsche der Menschen. Wir müssen das schützen. Wir müssen das notfalls auch verteidigen können. Dafür trage ich Verantwortung, aber dafür tragen letztlich wir alle eine Verantwortung, und zwar gemeinsam“, so Pistorius abschließend.
In der anschließenden Frage- und Diskussionsrunde wollte Moderator Armin Maus verständlicher Weise von Pistorius wissen „Haben wir die Zeit?“. „Wir müssen alles tun, so schnell wie es geht und hoffen, dass die Zeit reicht“, antwortete dieser.