Wie ein Pfarrhaus die Basis für Henriette Breymanns Arbeit bildete
Der Vater Henriette Breymanns, Ferdinand Breymann, hatte 1851 die Pfarre in Watzum übernommen. Seine Tochter kam nach Ende ihrer Studienzeit bei Friedrich Fröbel in Keilhau und einem Engagement in Schweinfurt 1854 voller missionarischer Schaffenskraft in diese Gemeinde. Die Rückkehr zu den Eltern und ihre Absicht, dort pädagogisch tätig zu werden, wurde bei vielen Vertrauten ihrer Fröbelschen Umgebung mit Skepsis begleitet. „Sie gehöre in die Welt, in ein größeres bewegteres Leben“.
Es dauerte bis zum Herbst 1854 bis die erste Pensionsschülerin im Watzumer Pastorenhause fest angemeldet war. Als in den nächsten Monaten weitere hinzukamen, war Henriettes uneingeschränkte Anwesenheit in Watzum erforderlich. Im Breymannschen Hause wurde die Erziehung der Pensionsgäste in die der jüngeren Schwestern Henriettes einbezogen. Die Anrede „Du“ sowie „Onkel“ und „Tante“ für den Pastor und seine Frau wurden selbstverständlich.
Morgens zum Frühstück erschienen die Mädchen im ordentlichen Morgenanzug und mit dem Strickzeug. Nach dem vom Hausvater gelesenen Gebet wurde der Kaffee getrunken. Von 8 bis 10 Uhr fanden dann die ersten Lehrstunden des Tages in deutscher, englischer oder französischer Sprache, in Geschichte, Naturkunde oder Geographie statt. „Es ist bei diesem Unterrichte der Zweck, die Lücken auszufüllen, welche etwa die Schulbildung gelassen hat, besonders aber die Mädchen auf alles Schöne und Große hinzuweisen, sie dafür empfänglich zu machen, eitles Wissen zu verbannen, zum selbständigen Denken und Verarbeiten des Gegebenen anzuleiten, damit, was sie aufnehmen, auch ihr eigen und seine Wirkung auf das wirkliche Leben sichtbar mache“, schrieb Henriette Breymann.
Das ganze Zusammenleben verfolgte den Zweck, „die Mädchen zu befähigen und zu vervollkommnen für ihren von der Natur angewiesenen Beruf: Pflegerin des Häuslichen, die leitende oder helfende Hand in der Sorge für der anderen leibliches und gemütliches Wohl, Erzieherin der Kleinen in der eigenen Familie oder der ihnen sonst anvertrauten Kinder zu sein“.
Henriette Breymann prägte für diese Erziehungsrichtung den Begriff der „Geistigen Mütterlichkeit“. Heute mögen diese Vorstellungen von Mädchen- und Frauenbildung als überkommen angesehen werden. Zu ihrer Zeit ging Henriette Breymann an der Spitze einer gemäßigten Frauenemanzipation, die im Fröbelschen Sinne auf eine Gemeinschaft mit gegenseitigem Geben und Nehmen abzielte.
Bereits im Herbst 1855 mussten im Watzumer Pfarrhaus bauliche Veränderungen vorgenommen werden, um acht Personen Platz zu bieten. Die Schwester, Marie Breymann, wurde 1856 in die pädagogische Arbeit einbezogen. Sie gab täglich eine Stunde für die kleinen Watzumer Dorfkinder. Zusätzlich war sie zweimal je Woche in Schöppenstedt im neu eingerichteten Kindergarten aktiv.
Ab 1857 wurden zusätzliche Zimmer im Dorfschulhaus für zwei erwachsene Damen gemietet, die zusammen mit den älteren der Mädchen den ersten Fröbelkurs besuchten. Die Unterrichtung in diesem Kurs wurde insbesondere durch Marie Breymann belebt, die wohl durch ihre besondere Lebensfreude und ihren Humor bestach.
Auf Henriette Breymann warteten schon bald größere Aufgaben. Der gute Ruf ihres Watzumer Mädchenpensionats hatte sich so sehr verbreitet, dass sie das Angebot des belgischen Unterrichtsministeriums erhielt, in Brüssel Vorträge über die Fröbelschen Ideen zu halten und seine Methoden in einer Schule praktisch einzuführen. Schon bald darauf wurde diese Aufgabe durch ein Lehrerinnenseminar erweitert. Weitere Auslandsaufenthalte nahm sie in der Schweiz und in England wahr. Im Jahre 1861 weilten dann sogar zwei Finninnen und zwei Russinnen im Auftrag ihrer Regierung längere Zeit in Watzum. Sie sollten die Fröbelschen Erziehungsweisen in ihrer Heimat anwenden und weitergeben.
Das Pfarrhaus in Watzum musste zur Aufnahme von nunmehr zwanzig Mädchen ausgebaut werden. Zwölf weitere Plätze wurden im Dorf für die Frauenkurse angemietet. Trotz Erhöhung des Kostgeldes wuchs die Nachfrage nach Pensionsplätzen beträchtlich. Zahlreiche Bewerberinnen beziehungsweise deren Eltern mussten vertröstet werden, weil alle Plätze bereits auf zwei Jahre im Voraus belegt waren.
Die Winterzeit nutzte Henriette Breymann, um sich dem eigenen Studium sowie der Veröffentlichung pädagogischer Schriften zu widmen. Ihre Artikel im „Braunschweigischen Schulblatte“, in „Erziehung der Gegenwart“ sowie in „Herzblättchens Zeitvertreib“, einer Jugendzeitschrift, erschienen jedoch leider anonym. Darüber hinaus führte sie mit den wesentlichen Vertreterinnen der Fröbelschen Ideen eine umfangreiche Korrespondenz.
Sie war der Mittelpunkt, die treibende Kraft eines Familienunternehmens, in welchem neben den noch rüstigen Eltern und der Schwester Marie auch die Geschwister Anna, Albertine, Karl und Adolf mitwirkten. Vom Watzumer Pastorenhaus wollte sie alles Anstaltsmäßige und Konventionelle fernhalten. Sie wollte weder im Unterricht noch im Leben als unfehlbar gelten. M.J. Lyschinska, ihre Biografin, schreibt: „Ihre Zöglinge fürchteten sich vor ihrer Heftigkeit, aber weit mehr noch vor der Entziehung ihrer Liebe. War aber der erste Sturm ihres Mißfallens vorüber, war eine Besserung angestrebt seitens der Getadelten, so gab es himmlische Momente der Versöhnung, der inneren Erhebung, hervorgerufen durch das Hindurchleuchten der Sonne ihres liebenden Interesses, durch ihren unvertilgbaren Glauben an die unerschöpflichen Möglichkeiten des Guten im jungen Menschen“.
Die enorme Entwicklung, die sich im Watzumer Pfarrhause innerhalb weniger Jahre vollzogen hatte, sowie die Ausschöpfung der räumlichen Kapazitäten ließen in den Jahren 1862 bis 1864 den Wunsch nach dem Erwerb eines eigenen Grundstückes mehr und mehr reifen. Nach ausführlichen Diskussionen über den geeigneten Standort sowie langem Suchen und Wählen wurde man 1864 in Wolfenbüttel fündig. Etwas außerhalb der Stadt Richtung Braunschweig erwarben die Breymanns mit vereinten Kräften und unter Schulden ein zehn Morgen großes Grundstück mit einem Gartenwirtshaus, das man für Bildungszwecke umbaute. Mitte Oktober 1864 wurde die Übersiedelung realisiert. Die Einweihungsfeier fand am 10. Januar 1865 im neuen Domizil, in „Neu-Watzum“, statt.
Das Watzumer Pfarrhaus bot jedoch die Basis für die erfolgreiche Weiterarbeit Henriette Breymanns und ihrer Geschwister. Zehn Jahre lang hatte ein frischer Wind der Aufklärung und fortschrittlicher Pädagogik, der das ganze Dorf beflügelte, in Watzum geweht.