80 Jahre erinnern ist nicht genug
„Wir erinnern heute gemeinsam an die über 15.000 zwischen 1933 und 1945 zu Unrecht inhaftierten, den über 1.000 gestorbenen und ermordeten Menschen, darunter 526 Hingerichtete und blicken gemeinsam in die Zukunft einer wirklichen Erinnerungskultur“, begrüßte Martina Staats, Leiterin der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel am Freitag, 11. April 2025, die Gäste zur Gedenkveranstaltung anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung Wolfenbüttels.
Über 150 Angehörige von Inhaftierten des Strafgefängnisses Wolfenbüttel aus verschiedenen Ländern sowie eine Abordnung aus Lichtervelde sind extra angereist, um an den Gedenkveranstaltungen am Freitag und Samstag in Wolfenbüttel teilzunehmen.
Dr. Elke Gryglewski, Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, betonte in ihrem Grußwort, dass das Strafgefängnis Wolfenbüttel einer der Orte sei, an denen wir uns heute vergegenwärtigen können, wie staatliche Institutionen zu Instrumenten einer Diktatur wurden. „Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass nach wenigen Tagen willkürlicher Gewalt sukzessive und zügig ein Regime eingeführt wurde, das auf Gesetzen basiert, Menschen zu anderen definierte, verfolgte und schließlich ermordete. Dazu wurden ab 1933 immer mehr Institutionen errichtet, die die nationalsozialistische Ideologie und die Verfolgung umsetzen sollten. Aber, und das gerät vielfach aus dem Blick, die Führung bediente sich auch der existierenden staatlichen Einrichtungen, deren Personal schon unter demokratischen Strukturen gearbeitet habe. Dazu gehörten die Strafgefängnisse, wo nun Menschen zu Unrecht festgehalten oder sogar aufgrund unrechtmäßiger Urteile ermordet wurden“, so Gryglewski. Mit Bedauern betonte sie: „Von Ihnen, liebe Angehörige, wissen wir, wie lange es gedauert hat, bis das Unrecht, das Ihren Vätern, Großvätern, Onkeln oder auch Müttern, Großmüttern oder Tanten angetan wurde, wie lange es dauerte, bis es als Unrecht anerkannt wurde. Viele von Ihnen, deren Angehörige Deutsche waren, haben erst in den letzten Jahren von dem Schicksal ihrer Verwandten erfahren. Zu lange hielt sich nach Kriegsende die Meinung, sogenannte Zuchthäusler wären zu Recht eingesperrt und zum Tode verurteilt worden. Diejenigen von Ihnen, deren Angehörige aus anderen Ländern, von den Deutschen besetzten Ländern, hierher verschleppt wurden, wussten zwar von der Geschichte. Diese wurde jedoch lange nicht als Unrecht anerkannt, es gab keine Entschädigung. Und so gehört auch die Nachkriegsgeschichte dieses Ortes zu dem, an was wir heute erinnern und von dem wir für die Gegenwart Rückschlüsse ziehen möchten.“
„80 Jahre Erinnern sind nicht genug und ich möchte über den Weg in den letzten 80 Jahren reden und auch darüber, dass dieser Weg gegenwärtig steinig geworden ist“, eröffnete Bürgermeister Ivica Lukanic seinen Redebeitrag, „heute ist ein besonderer Tag in der Wolfenbüttler Erinnerungskultur. Heute gedenken wir gemeinsam der Befreiung der Strafanstalt Wolfenbüttel vor 80 Jahren. Wir tun dies mit Nachdruck, mit Gefühl und mit dem klaren Bewusstsein, dass Erinnern allein nicht genügt, sondern auch Verantwortung im Hier und Jetzt erfordert“. Am 11. April 1945 marschierten Einheiten der 9. US-Armee in Wolfenbüttel ein. Doch noch bis in die letzten Stunden bedrohten die Nationalsozialisten all jene, die nicht widerstandleistend waren. Trotz dieser Umstände konnten die Alliierten die Stadt einnehmen, ohne dass es zu militärischen Auseinandersetzungen kam. Mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 endete schließlich der bisher verheerendste Vernichtungskrieg in Europa. „In Wolfsbüttel waren die Menschen kriegsmüde und mit weißem Faden signalisierten sie, es soll endlich vorbei sein. Und doch, die Befreiung kam nicht aus eigenem Antrieb. Sie hatte keinen Ursprung im Innern der Stadtgemeinschaft. Das ist eine historische Tatsache, der wir uns stellen müssen. Wie vielerorts begann unmittelbar nach Kriegsende auch in Wolfsbüttel das Verdrängen, das Beschwichtigen und das Leugnen der eigenen Mitverantwortung“, so der Bürgermeister. Besonders das Strafgefängnis Wolfsbüttel stehe für eines der dunkelsten Kapitel der Stadtgeschichte. „Hier wurden politische Gegner hingerichtet, weil sie den Mut besaßen Widerstand zu leisten. Die Justiz wurde zur Handlernahme politischer Verfolgung, aus Recht wurde Unrecht. Frauen und Männer, die Widerstand geleistet hatten, die bei Nacht und Nebel verschleppt worden sind oder diejenigen, die geringfügige Delikte begangen haben, wurden inhaftiert, gefoltert und ermordet“, sagte Lukanic. Er dankte daher insbesondere den Angehörigen der im Strafgefängnis ermordeten Männer und Frauen, die an diesem Tag nach Wolfenbüttel gekommen sind: „Ihr Besuch in Wolfsbüttel und unser gemeinsames Gedenken sind mehr als ein Zeichen der Erinnerung. Sie sind ein Akt der Versöhnung und ein Beitrag zur europäischen und ich betone auch zur transatlantischen Erinnerungskultur. Ihr Besuch ist Sinnbild dafür, wie historische Reflexion dazu beitragen kann, die Verbindungen zwischen Orten und Biografien lebendig zu halten.“ Lukanic sieht, trotz der Erlebnisse vor 80 Jahren auch heute wieder Gefahren für die Demokratie. „Der Blick in die heutige politische Landschaft zeigt alarmierende Parallelen zur Entwicklung der Vergangenheit. Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung wird zunehmend durch Extremismus, Populismus, Revisionismus und gezielte Desinformation herausgefordert. Was bleibt, wenn wir nicht erinnern? Was geschieht, wenn wir Schweigen und was ist unsere Antwort auf den Hass von heute? Die Antwort ist Haltung. Gerade in Zeiten, in denen autoritäres Denken, Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus erneut erstarken.“
Auch Landrätin Christiana Steinbrügge betonte, wie wichtig das regelmäßige Gedenken an die Geschehnisse vor 80 Jahren sei. „Als erstes, wir sind es der Würde der Betroffenen und ihrer Angehörigen schuldig, die Erinnerung an sie wahrzuhalten. Zum zweiten, wir müssen immer weiter und immer neu erforschen, wie damals Diktatur und Entmenschlichung politischer und gesellschaftlicher Gegner entstanden sind und wie sie auch heute noch entstehen. Und wenn man die Fakten kennt, müssen diese drittens zur individuellen und kollektiven Erinnerung werden. Die Überschrift unserer Veranstaltung heute, hier, ,80 Jahre erinnern ist nicht genug‘, zählt völlig zu Recht auf diesen Begriff.“
Professor Dr. Gerhard Wegner, Niedersächsischer Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens, stellte klar: „Der Nationalsozialismus muss für alle Zeiten als Zivilisationsbruch unvorstellbaren Ausmaßes im kollektiven Gedächtnis präsent bleiben. Nur wer die Schrecken der Vergangenheit kennt, kann die Gefahren einer Politik voll erfassen, die auf Hass, Hetze und Ausgrenzung anderer beruht. Nichts ist angesichts der Millionen Opfer des Nationalsozialismus gefährlicher und abstoßender als die von manchen Kräften aus dem rechten Spektrum immer schamloser vertretene ,Jetzt ist es doch auch mal gut gewesen‘-Haltung.“ Orte wie die Gedenkstätte Wolfenbüttel schaffen in seinen Augen für diese Opfer der Gewalt und den Leiden einen konkreten Erinnerungsgrund. Plötzlich erhielten diese Menschen einen Namen, ein Gesicht, eine Geschichte. Es seien aber nicht nur die Opfer, die einen Namen und eine Geschichte bekommen. Die Gedenkstätte in Wolfenbüttel benenne auch die Täter. „Sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ist auch ein fast ebenso wichtiger Teil der Erinnerungskultur wie die Beschäftigung mit den Opfern“, so Dr. Wegner. Im Rahmen der Erinnerungskultur in Niedersachsen und Deutschland komme der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel daher eine besondere Bedeutung zu. „Es handelt sich um eine der ganz wenigen erhaltenen Hinrichtungsstätten in Deutschland. Anders als Dachau, Buchenwald oder Bergen-Belsen war Wolfenbüttel kein Vernichtungs- oder Konzentrationslager, in dem Menschen massenweise ermordet wurden, ohne ernstlich zu versuchen, auch nur dem Anschein der Legalität zu gehen. Auch in Wolfenbüttel wurden Menschen willkürlich eingesperrt, misshandelt, gefoltert und in 526 Fällen schließlich ermordet. Das alles geschah aber nicht außerhalb des geltenden Rechtes, sondern war das Werk eines Justizapparates, der sich in weiten Teilen mit erschreckender Willkürlichkeit in den Dienst des Regimes gestellt hatte. Die Erfahrungen hier in Wolfenbüttel zeigen jedoch, wie schnell ein vermeintlicher Rechtsstaat zum Werkzeug des Unrechts werden kann. Wenn die Justiz nicht resilient und widerstandsfähig ist, sondern ihre führenden Protagonisten sich bereitwillig in den Dienst menschenverachtender politischer Ideologien stellen, wird die Herrschaft des Rechts erschreckend schnell zu einer bloßen Hülle. Gedenkorte wie hier in Wolfenbüttel sind deshalb nie nur Orte der Erinnerung. Sie sind auch stetige Mahnungen, wohin solche Entwicklungen führen können.“
„Gemeinsam mahnen wir 80 Jahre Erinnern ist nicht genug. Diese Mahnung wirft folgende Frage auf. Was ist genug? 100 Jahre? 150 Jahre? Um es hier ganz schnell klar zu beantworten, diese Frage kann nicht mit einer Zeitspanne beantwortet werden, denn es gibt hier kein zeitliches Genug“, sagte die Norwegische Botschafterin Laila Hilde Stenseng. „Mein Appell lautet, betrachten Sie Verantwortung nicht als eine Pflicht oder eine Ehre, sondern vielmehr als ein positives Bekenntnis, das man aktiv und immer wieder erneuern muss. Dieses Bekenntnis hat auch kein Ablauf- oder Verfallsdatum und es gilt für uns alle. Nur dann kann ein robustes und nachhaltiges Bollwerk gegen das Vergessen geschaffen werden.“
Unter dem Motto „Keeping Memory Alive“ fand nach den Redebeiträgen ein besonderer Programmpunkt statt – ein Gespräch mit Familienangehörigen auf der Bühne. André Charon, Jean-Philippe Loubignac, Andrea Mattes, Paul Stray und Grazyna Szymanska-Madziar schilderten sehr emotional, von der persönlichen Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die an den Angehörigen, also an dem Vater oder Großvater, begangen worden sind.
Bei MAN Truck & Bus SE Salzgitter wird Erinnerungskultur großgeschrieben. Die dortigen Auszubildenden setzen sich seit vielen Jahren regelmäßig mit Biografien von Menschen, die im Strafgefängnis Wolfenbüttel inhaftiert waren, auseinander. Und zur 80-jährigen Wiederkehrbefreiung haben sie sich ein besonderes Projekt überlegt. Gerd Kubin, Werksleiter, berichtete auf der Bühne davon. „Wir bilden in jedem Jahr ungefähr 40 junge Menschen in technischen Berufen aus, um unser Unternehmen dauerhaft mit guten und motivierten Kraftkräften auszustatten. Neben der reinen beruflichen Ausbildung ist uns dabei aber sehr wichtig, den jungen Menschen auch kulturell und politisch den Horizont für ihr zukünftiges Leben zu erweitern und ihnen mit geschichtlichem Hintergrund ein ausgeprägtes Demokratieverständnis zu vermitteln. Alle Auszubildenden nehmen an mehrtägigen Workshops teil, bei denen auch die verbrecherische nationalsozialistische Vergangenheit mit Bezug auf die Region dargestellt wird, und vor allem deren Folgen geschrieben werden. Die Auszubildenden engagieren sich auch an Projekten wie zum Beispiel dem Erinnerungsort auf dem Friedhof in Wolfenbüttel, bei dem die Auszubildenden intensiv mitgearbeitet haben.“ Anlässlich des diesjährigen Jahrestags wurde ein Quader aus Aluminium hergestellt, auf dem ein Schlüsselbund abgebildet ist und in verschiedenen Sprachen mit dem Wort Freiheit beschriftet ist. Diese wurden an alle Angehörigen verteilt.
Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung von Gefängnisseelsorger Markus Galonska und Hans-Peter Henkel.
Bevor dann im Anschluss alle in die Gedenkstätte zur Kranzniederlegung wechselten, trugen sich die Norwegische Botschafterin Laila Hilde Stenseng, André Charon als Vertreter für alle Angehörige und Professor Dr. Gerhard Wegner ins Goldene Buch der Stadt ein.
Weitere Informationen
- 80 Jahre Befreiung Rede zur Gedenkveranstaltung(PDF-Datei: PDF, 271 kB, barrierearm)
Fotos auf Flickr: Flickr-Album: 80 Jahre Befreiung Wolfenbüttels