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Datum: 10.11.2023

Keine Toleranz gegenüber Rassismus und Antisemitismus

Das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus wach zu halten, bedeutet Erinnern für Gegenwart und Zukunft. Am jüdischen Gedenkstein am Lessingplatz wurde auch in diesem Jahr wieder an die Pogrome des Novembers 1938 erinnert. Das Bündnis gegen Rechtsextremismus und die Stadt Wolfenbüttel hatten Bürgerinnen und Bürger der Stadt zum gemeinsamen Gedenken eingeladen.

Blick über Zuhörerinnen und Zuhörer bei der Gedenkstunde anlässlich des Jahrestages der Novemberpogrome, im Hintergrund ein Pavillonzelt mit Musikern © Stadt Wolfenbüttel
Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger besuchten sie Gedenkveranstaltung.

Die Inschrift des Gedenksteins erinnert an die ehemaligen jüdischen Bürger Wolfenbüttels und die einst prächtige Synagoge in der Lessingstraße. Diese wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 von Angehörigen der SS angezündet und zerstört. Jüdische Wolfenbütteler wurden gedemütigt, geschlagen, ihre Wohnungseinrichtungen zerstört und der Großteil der Männer in das KZ Buchenwald verschleppt. Nach der Kranzniederlegung sprachen Vertreter des Bündnisses, Bürgermeister Ivica Lukanic, und Ghalia El Boustami, Beauftragte für interkulturelle Kompetenz vom Landkreis sowie Schülerinnen und Schüler der Henriette-Breymann-Gesamtschule. Musikalisch begleitet wurde die Veranstaltung von Ryszard Pobieda und Mitgliedern der Musikschule Wolfenbüttel.

Während und nach der Veranstaltung können Interessierte zum BürgerMuseum hinübergehen. Dort werden Bilder aus dem heimatgeschichtlichen Archiv von Jürgen Kumlehn unter dem Titel „… Wolfenbütteler, wie wir sie waren!“ historische Fotos jüdischer Familien aus Wolfenbüttel vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum „Dritten Reich“ mit nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und Diktatur gezeigt.

Die Rede von Bürgermeister Ivica Lukanic im Wortlaut

Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger von Wolfenbüttel, heute Morgen um zwei Uhr brannte die Synagoge hier in der Lessingstraße. Das war vor 85 Jahren. Um den Ablauf des Pogroms in Wolfenbüttel zu planen, trafen sich der SS-Obergruppenführer, der Braunschweigische Polizeichef und ein Wolfenbütteler SS-Angehöriger in Braunschweig. Nach ihrem Treffen leiteten sie die Pogrome in Wolfenbüttel ein. In der Nacht des 9. November 1938 gegen 2 Uhr morgens zerstörten Angehörige der SS, SA und Hitlerjugend die Synagoge in der Lessingstraße. Sie zerschlugen das Mobiliar mit Äxten und legten mit Benzin ein Feuer in dem Gotteshaus. Die Synagoge brannte bis auf die Grundmauern nieder. Die Feuerwehr sollte nur auf Befehl der SS eingreifen und ihr einziger Auftrag war es, das Übergreifen des Feuers auf umliegende Gebäude zu verhindern.

Am 9. und 10. November 1938 kam es zu von Nationalsozialisten organisierten und durchgeführten gewalttätigen Übergriffen gegen Juden im gesamten Deutschen Reich. Synagogen wurden niedergebrannt, jüdische Geschäfte geplündert und zerstört, zahlreiche Juden wurden ermordet oder in Konzentrationslager verschleppt und deportiert. Dieses Ereignis markierte eine deutliche Eskalation der nationalsozialistischen Judenverfolgung und ist neben dem 27. Januar, dem „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“, heute unser deutscher Gedenktag an die Shoah, das schlimmste Menschheitsverbrechen, dem sechs Millionen Juden zum Opfer fielen. Die meisten von Ihnen kennen die Geschichte und Sie fragen sich, wieso ich Bekanntes wiederhole. Im ersten Halbjahr 2023 wurden 960 antisemitische Straftaten registriert, darunter 25 Gewaltdelikte. Der Großteil der Straftaten im zweiten Quartal 2023 wurde der politisch motivierten Kriminalität von rechts zugeordnet. Demnach entfielen 380 von 446 gemeldeten Taten auf diesen Bereich. Dann hat der 7. Oktober in unserem Land Einiges verändert.

Seit dem barbarischen und antisemitisch motivierten Angriff der Hamas auf Israel gab es bereits mehr als 1800 Straftaten im Zusammenhang mit den Terroranschlägen und in nur drei Wochen bis zum 1. November waren es allein 202 antisemitisch motivierte Straftaten. Ein Gewaltaufruf der Hamas, der sogenannte “Tag des Zorns”, gegen Juden führte am 13. Oktober dazu, dass jüdische Schülerinnen und Schüler in Berlin vor Angst dem Unterricht ferngeblieben sind. An Hauseingänge wurden Davidsterne geschmiert und unter Skandieren israelfeindlicher Parolen wurde der Angriff der Hamas auf offener Straße gefeiert. Auch hier in Wolfenbüttel wurden jüngst antisemitische Sprüche an Hauswände gesprüht. Die Fraktion der Grünen hat sich hierzu positioniert. Der israelfeindliche Post von FFF international hat zu einer heftigen öffentlichen Debatte geführt. Der offenbar von einer kleinen Gruppe veröffentlichte Post hat mit der ausgelösten Debatte gezeigt, wie viele der Gruppe zugeneigte, insbesondere junge Menschen sich geschichtsvergessen und unkritisch der veröffentlichten Meinung angeschlossen haben.

Jüdinnen und Juden haben wieder Angst in Deutschland. Einige von Ihnen tragen sich inzwischen mit dem Gedanken, das Land zu verlassen. Ich bin zutiefst beschämt und erschüttert. Das alles passiert hier in Deutschland; 85 Jahre nach dem Novemberpogrom in einem Land, in dem die Vernichtung von Jüdinnen und Juden oberstes Staatsziel war. Haben wir nicht gerade hier an diesem Ort als Stadtgesellschafft genauso wie in der gesamten Republik die Verantwortung, antisemitische beziehungsweise rassistische Übergriffe aufs Schärfste zu verurteilen? Es gibt hier mit unserer historischen Verantwortung für Rassismus und Antisemitismus keine roten Linien, keinen Spielraum oder Toleranzschwellen. Keine Toleranz gegenüber Rassismus und Antisemitismus ist unsere staatsbürgerliche Pflicht und Verantwortung. Wenn nicht hier, wo dann?

Aktuell begegnen wir dem Antisemitismus in verschiedenen Lagern. Die politische Linke, die zum Teil der Widerstandssage der postkolonial geschundenen Seele folgt. Diese ist ursprünglich ein rechtes Narrativ, um eine Schuldzuschreibung in die Geschichte zu verlegen und nicht dem eigenen gegenwärtigen Handeln anzulasten. Die politische Rechte, die sich jetzt vordergründig auf die Seite des Antisemitismus stellt und den Entzug von Bleiberechten für Migrantinnen und Migranten fordert (hierzu sage ich gleich noch etwas). Es ist die Rechte, die in ihren Reihen die größten Geschichtsrevisionisten hat, die das Mahnmal der sechs Millionen ermordeten Juden Europas als Schandmal bezeichnen und die Zeit des Nationalsozialismus in zutiefst beschämender Weise marginalisieren und verharmlosen. Die pro-palästinensisch islamische Gemeinschaft, die sich nicht entschieden genug gegen das Verbrechen am 7. Oktober positioniert hat.

Sie dominiert das Bild der Solidaritätsbekundungen für die palästinensische Seite, duldet teilweise das Mitführen islamistischer Plakate und Symbole bei uns im öffentlichen Raum und auf der Straße. Der Angriff der Hamas wurde gefeiert und häufig mit “Ja aber, die jahrelange Unterdrückung; ja aber, die Armut“ gerechtfertigt. Es gibt hier kein “ja aber”. Die Hamas ist eine verbrecherische terroristische Organisation, die Kinder, Frauen und Männer martialisch getötet hat und deren Ziel die Vernichtung der Juden ist. Deshalb war es in der vergangenen Woche richtig, dass die Hamas und Samidoun in Deutschland verboten wurden. Auch wenn sich die Länderinnenminister beklagen, sie seien nicht ausreichend eingebunden gewesen, füge ich hinzu: Das Verbot hätte auch schon vor Jahren ausgesprochen werden können. Ja, es ist in Deutschland verboten israelische Flaggen anzuzünden und Menschen wegen ihres Glaubens oder ihrer Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe zu diskriminieren. Das ist kein einseitiger Anspruch, den genießen alle bei uns lebenden Menschen und wer diesen Anspruch für sich reklamiert, muss ihn auch anderen zubilligen. Hier gilt der kantsche Imperativ „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Was können wir als Gesellschaft insgesamt und was hier vor Ort gegen den wachsenden Antisemitismus beitragen? Erstens: Wir müssen durchsetzungsfähiger werden. Gesetze, die Hassreden, Hassverbrechen und Diskriminierung verbieten, müssen gegenüber all den vorhin genannten Gruppierungen durchgesetzt und wenn nötig verschärft werden. Dazu gehören spürbare Sanktionen für alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ungeachtet des politischen Lagers bis hin zur Einschränkung von Bleiberechten. Nur so können wir jüdische Gemeinschaften hier in Deutschland schützen und ein starkes Zeichen gegen den wachsenden Antisemitismus und Rassismus setzen.

Zweitens: Wir müssen unsere Verantwortung erkennen und lernen die Dinge richtig einzuordnen. Richard von Weizsäcker war in der Zeit von 1984 bis 1994 Bundespräsident. In seiner historischen Rede zum 40. Jahrestag der Befreiung am 8. Mai 1985 hat er die Schuld der Deutschen im Sinne der Kollektivverantwortung für den Holocaust voll eingestanden und an die Bevölkerung appelliert, sich immer der deutschen Gräueltaten bewusst zu bleiben. An einer Stelle in dieser Rede sagte Richard von Weizsäcker etwas heute Bemerkenswertes und leitete ein: Ich zitiere: “Wir dürfen uns der Entwicklung dieser vierzig Jahre dankbar erinnern, wenn wir das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie für unser Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf uns warten, nutzen.” Und weiter hieß es: Wer über die Verhältnisse im Nahen Osten urteilt, der möge an das Schicksal denken, das Deutsche den jüdischen Mitmenschen bereiteten, und dass die Gründung des Staates Israel unter Bedingungen auslöste, die noch heute die Menschen in dieser Region belasten und gefährden.”

Genau diese Aussage ist Ursprung und Quelle unserer Staatsräson für die Sicherheit Israels, die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in Deutschland und unsere Verantwortung für alle in der Region betroffenen Menschen. Ich habe die Tage einige Gespräche geführt und vor diesem Hintergrund starke Verunsicherung gespürt. Die Staatsräson bedeutet nicht etwa, dass man sich unkritisch auf die Seite der israelischen Politik stellen muss. Man darf kritisch sein, man darf und soll die Opfer auf beiden Seiten betrauern. Deshalb dürfen wir und müssen uns neben der Unterstützung für Israel auch für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen, die Palästinenserinnen und Palästinenser einsetzen. Und das tun wir als Teil der Staatengemeinschaft, indem wir einen humanitären Korridor und jüngst eine Waffenruhe einfordern. Die Staatsräson verordnet uns kein Schweigegelübde und eine einseitige Solidarität. Die Staaträson ist allerdings ein klares Bekenntnis zur Sicherheit des Staates Israel, die uns keinesfalls aus der humanitären Verantwortung für alle Menschen in der Region entlässt und dennoch keinen Antisemitismus duldet!

Drittens: Wir dürfen nicht vergessen und müssen an unserer Diskussionskultur arbeiten. Es gibt inzwischen immer weniger Zeitzeugen. Fehlende Erinnerung und das Vergessen der Gesellschaft sind Ausdruck eines Bildungsdefizits und verbunden mit einer auf Polarisierung konditionierten Diskussionskultur in unserem Land sind insbesondere virtuelle Räume der Schmelztiegel für Spaltung, Hass, Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz. In den vergangenen Tagen wurden selbst aufrichtig gemeinte Bekundungen über die Anteilnahme an den zu beklagenden Opfern des Konflikts in Israel in den sozialen Medien und öffentlichen Debatten wahllos verurteilt. Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass breiten Teilen derjenigen, die sich geäußert und skandiert haben, unsere humanistische Grundhaltung, die Aufklärung, die unserer Staatsverfassung innewohnenden Menschenrechte und unsere freiheitlich demokratische Grundordnung nicht bekannt sind.

Die Wiederholung der Erzählungen - wie eingangs geschehen -, die jährliche Zusammenkunft an diesem Erinnerungsort, der Schulunterricht in unseren Wolfenbütteler Schulen über die Geschichte des Judentums, und die Geschichte des Antisemitismus einschließlich des Holocaust sowie der Besuch von Holocaust-Gedenkstätten spielen eine wichtige Rolle bei der Erinnerung an die Vergangenheit, bei der Aufklärung der Öffentlichkeit und in unserer Versöhnungsarbeit. An dieser Stelle danke ich dem Bündnis gegen Rechtsextremismus, unter anderem Frau Resch-Hoppstock, für die alljährliche Organisation dieser Gedenkstunde und den Schülerinnen und Schülern der Henriette-Breymann-Gesamtschule, die sich dankenswerter Weise auch in diesem Jahr bereit erklärt haben ihren Beitrag zu leisten.

Versöhnung beginnt mit Erinnerung! Denken wir zurück an die Geschichte und die Ereignisse hier in der Lessing-Straße unweit des ehemaligen Synagogenstandortes. Wir stehen unter den Augen Nathan des Weisen - als treffendes Symbol der Versöhnung zwischen den Religionen – und neben dem Gedenkstein, mit einer aus der vorhin zitierten Rede stammenden Aussage und Aufschrift von Richard von Weizsäcker: “Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart".

Die Rede von Ghalia El Boustami, stellvertretende Bürgermeisterin, im Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren, Khaver'im yeka'rim, liebe Schüler und Schülerinnen, liebe Bündnis gegen Rechtsextremismus-Partnerinnen und -partner, verehrte Gäste,

heute gedenken wir der Pogromnacht des 9. November 1938, die sich vor 85 Jahren mit erschütternder Gewalt und Grausamkeit in ganz Deutschland ereignete - auch in Wolfenbüttel. In jener Nacht wurden in vielen Städten Deutschlands jüdische Geschäfte, Büros und Synagogen zerstört. Jüdische Menschen wurden gezielt angegriffen und getötet. Es kamen in jenen Tagen fast 400 Menschen ums Leben, sie wurden grausam ermordet oder in den Selbstmord getrieben. In einer einzigen Nacht wurden 30.000 Juden und Jüdinnen inhaftiert und deportiert. Nur, weil sie Juden und Jüdinnen waren.

Diese Zahlen und Taten sind kaum zu ertragen, wenn man sich einen Moment lang nur versucht bildhaft vorzustellen, was geschah. Das waren nicht nur Worte, wie die, die ich dafür suche. Es waren Taten. Hinter jeder dieser Zahlen steht eine Person, mit ihrem Leben, ihrer eigenen Persönlichkeit, ihrer Familie, ihrem Beruf. Menschen, die unsere Mitbürger und Mitbürgerinnen waren. In Wolfenbüttel wurde die Synagoge niedergebrannt. Was für ein grausames Symbol eines bewussten Vernichtungswahns. Aber es blieb nicht dabei. Fast alle jüdische Männer wurden in dieser Nacht gesammelt und ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Wir gedenken heute gemeinsam diesen Menschen und ihren Familien.

Ein Modell der Synagoge, die vom Architekten Constantin Uhde damals entworfen wurde, wird demnächst in Wolfenbüttel aufgestellt. Das ist ein gutes Zeichen auf dem Weg nach mehr Sichtbarkeit für das jüdische Leben in Wolfenbüttel - gestern und heute.

Meine Damen und Herren, ich bin sehr geehrt, die heutige Ansprache halten zu dürfen, auch wenn ich gestehen muss, dass es im aktuellen Kontext kein leichtes Unterfangen ist.

Heute spreche ich Sie an als Beauftragte für Interkulturelle Kompetenz des Landkreises Wolfenbüttel. Ich bin auch Politikerin. Vor allem bin ich Mensch und möchte Sie als solcher ansprechen.

Heute reicht es nicht, sich auf das Gedenken zu konzentrieren und ein "Nie wieder" betont zu wiederholen. Denn die Welt ist seit dem 7. Oktober dieses Jahres eine andere geworden, dem Tag des mörderischen Angriffes der Hamas auf Israel, in dem auf furchtbarer, kaum vorstellbarer Art Menschen in Israel massakriert wurden. Heute noch bangen Familien um ihre in Geisel genommenen Lieben. Wir wissen nicht, wie es den Geiseln in dieser Stunde geht und stehen ihnen und ihren Familien in Gedanken und Gebeten bei. Es war der schrecklichste Massaker an Juden und Jüdinnen nach dem Holocaust. Wir stehen ihnen bei. Sie haben unsere uneingeschränkte Empathie. "Nie wieder" ist zu einem schwachen Slogan geworden und es erschüttert einen, dass grausame, gezielte Akten der Zerstörung jüdischen Lebens und der Einschüchterung wieder stattgefunden haben, wieder stattfinden. Das Unfassbare ist wieder möglich geworden.

Jede Woche gibt es in Deutschland mindestens einen antisemitischen Angriff, gibt die Amadeu Antonio Stiftung bekannt. Juden und Jüdinnen leben wieder in Angst, das Trauma einer drohenden absichtlichen Vernichtung lebt wieder hoch. Häuser werden mit Davidsternen markiert, Beleidigungen, Beschimpfungen werden laut, auch Gewalttaten werden registriert. Das ist unfassbar. Es erschüttert uns.

Wolfenbüttel ist da leider keine Ausnahme. Vor kurzem ist eine widerliche antisemitische Schmiererei an die Bürofassade einer demokratischen Partei unserer Stadt gesprüht worden. Schockierend ist, dass dies überhaupt möglich wurde. Auf dieser Weise wollten die Täter eine Politik der offenen Gesellschaft im demokratischen Diskurs mit antisemitischen Beleidigungen der übelsten Art kontern. Das dürfen wir nicht zulassen!

Beim diesjährigen Demokratietag, den die Partnerschaft für Demokratie des Landkreises ausrichtet, hielt Benjamin Winkler von der Amadeu Antonio Stiftung einen Vortrag mit dem Titel: "Verschwörungsideologischem Antisemitismus entgegentreten". Eindrücklich zeigte er, wie Antisemitismus generell die Demokratie gefährdet, in dem dieser es auf eine offene, vielfältige Gesellschaft abgesehen hat. Antisemitismus geht uns alle an!

Sehr geehrte Gäste, was haben wir dem entgegenzusetzen? Auch wenn die Ohnmacht um sich greift, auch wenn Sprachlosigkeit und Entsetzen uns manchmal im Griff zu haben scheinen, gibt es Wege, die begangen werden können und sollen. Sie sind nicht immer leicht - aber es gibt sie.

Hier möchte ich auf einen Begriff eingehen, der manchmal überstrapaziert wird, der aber heute ein Schlüssel fürs Verständnis und fürs Handeln sein kann: Empathie.

Empathie fehlt bitter. Empathie für die Opfer und Hinterbliebenen der kaum erträglichen Ereignisse des 7. Oktobers - Massaker an Kinder, Familien, Männern und Frauen; alte Menschen in Kibbuzim, junge Menschen auf einem Musikfestival. Empathie für die Geiseln und ihre Familien, die immer noch in Verzweiflung, Angst und auch Hoffnung leben. Aber Empathie macht nicht Halt vor nationalen oder religiösen Grenzen: Empathie auch für die Zivilbevölkerung in Gaza, für die Beduinen in Westjordanland, für alle Menschen, die unter Krieg und dessen Folgen leiden. Denn: A'dam hu a'dam. Mensch ist Mensch. Al ins'saan(ou) huwa ins'saan(oun)

Die Politikwissenschaftlerin und Autorin Emilia Roig hat den Begriff der Empathielücke geprägt. In ihrem Buch "Why we matter - das Ende der Unterdrückung" schreibt sie: "Empathie - oder das Fehlen von Empathie - ist eine wichtige Grundlage von Diskriminierung und gesellschaftlicher Ungleichheit. Das Verschwinden von Empathie ist nach Hannah Arendt das erste und wichtigste Zeichen, dass eine Kultur der "Barbarei" anheimfällt - in ihren Worten. Was Menschen daran hindert, Empathie zu verspüren, ist die Entmenschlichung anderer in all ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Entmenschlichung und Empathie sind deshalb untrennbar miteinander verbunden." (In: Emilia Roig, "Why we matter - Das Ende der Unterdrückung", Aufbau Verlag, 3. Auflage, Berlin 2021, Seite 146).

In ihrem Buch bezieht sie sich vorwiegend auf die weit verbreitete Empathielücke gegenüber Schwarzen Menschen und Menschen mit sichtbarer Migrationsgeschichte. Antisemitismus legt auch einen schockierenden Mangel an Empathie zutage, als ob der Schmerz von Juden und Jüdinnen weniger Wert wäre als der Schmerz anderer Menschen. Zudem erleben wir jetzt eine verheerende Empathielücke auch bezüglich anderer Gruppen. Wo sind meine, Ihre, wo sind unsere Empathielücken und was tun wir dagegen?

Die Journalistin und Autorin Yasmine M'Barek sagt: "Empathie ist die größte Waffe in der Spaltungsdebatte". Sie vertritt die Meinung, dass Empathie zu den demokratischen Werten gehört und unsere Gesellschaft vor der Spaltung bewahren kann. Ja, es klingt vielleicht simpel. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass es so ist.

Heute beobachten wir eine gefährliche und allgegenwärtige Spaltung. In einer Gesellschaft, in der schwarz-weißes Denken um sich greift, ist respektvolles Zuhören seltener geworden. Komplexität überfordert. Dissenz zu ertragen im Gespräch mit Andersdenkenden wird immer schwieriger. Das schockiert, denn kluger Dissenz und sorgfältige Differenzierung gehören zum demokratischen Diskurs.

Angst ist real, Antisemitismus ist real. Es gibt Antisemitismus innerhalb der arabischen Welt und von Muslimen, die in Deutschland leben. Dieser flammt aktuell auf gefährlicher Weise auf. Klar antisemitische Parolen werden skandiert, israelische Flaggen werden abgehängt und verbrannt. Dieser widerliche Antisemitismus ist nicht zu verharmlosen und ihm muss entschieden entgegengetreten werden. Es wäre aber eine Verkürzung, wie sie leider an der Tagesordnung ist, die Muslime in der ganzen Welt und dazu die Geflüchteten unter ihnen, die bei uns leben, als die einzig wahren Antisemiten darzustellen. Antisemitismus von muslimischer Seite hat gefährliche Dimensionen seit dem 7. Oktober angenommen. Antisemitismus von Rechts greift aber weiterhin um sich. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle, der zum Glück nicht zum vom Attentäter erzielten Massaker führte, wurde von einem Deutschen verübt. Wir alle tragen Verantwortung. Es wäre verheerend, sich durch Fingerzeig auf einen angeblich von Natur aus islamischen Antisemitismus als deutsche Gesellschaft davon freizusprechen. Denn genau das macht das Spiel der Antisemiten und Rassisten von Rechts: zwei der Minderheiten, die heute viel Diskriminierung und Rassismus erleben, Juden und Jüdinnen und Muslime, werden gegeneinander aufgebracht. Währenddessen kann Rechtsextremismus unbeobachtet weiter gedeihen. Das dürfen wir nicht zulassen!

Ein Bereich, in dem Differenzierung besonders wichtig ist, ist die Schule. Schulen sind Orte der Bildung, aber auch der Auseinandersetzung mit Fragen der Identität, Schulen sind Orte des Ausprobierens, des Wachsens, Orte, an denen man sich nach Vorbildern richten kann. Schulen sollten geschützte Räume sein. Heute aber haben jüdische Kinder Angst, in die Schule zu gehen, sie vermeiden das sichtbare Tragen von religiösen Zeichen. Das stimmt mich zutiefst traurig. Manche Schulen verbieten andere Zeichen der sichtbaren Identität einiger Schülerinnen und Schüler. Das kann nicht der Weg sein.

Häufig höre ich von Schweigen und Angst. Jüdische Kinder und Jugendliche bleiben der Schule fern, ihre Angst und die ihrer Eltern ist real. Eine in Deutschland geborene und aufgewachsene muslimische Freundin erzählt, dass ihre Töchter sich nicht trauen, das Thema Nahostkonflikt in der Schule anzusprechen. Junge Frauen, die ihre Eltern zur Demokratie und Meinungsfreiheit erzogen haben, haben Angst. Jugendliche trauen sich nicht, das, was sie bewegt anzusprechen. Leider ist dies kein Einzelfall und es stimmt mich nachdenklich. Alle Schüler und Schülerinnen ringen um Worte, um Orientierung in dieser Lage und brauchen Begleitung. Viele Pädagogen und Pädagoginnen sind verunsichert und brauchen selbst Unterstützung. Sicher ist: Schulen sind Orte des Dialogs und sollen es bleiben. Und Dialog heißt auch die Auseinandersetzung mit Vorurteilen, mit Fragen der Identität in einem wertschätzenden, geschützten Raum. Im gegenseitigen Respekt.

Es gibt auch Beispiele, die Hoffnung machen. Ein jüdischer Pädagoge und seine palästinensische Kollegin, Shai Hoffmann und Jouanna Hassoun, haben beschlossen, nach dem 7. Oktober gemeinsam an Schulen zu gehen, geschützte Räume anzubieten und mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Sie hören viel zu, ziehen klare Linien wenn nötig, fangen auf und zeigen gangbare Wege für die Jugendlichen, egal woher sie kommen - gemeinsam. Sie sind sehr gefragt.

So soll es sein, so können Ängste jüdischer Jugendliche aufgefangen werden, so können muslimische und deutsche Jugendliche ihnen zur Seite stehen - und andersherum. Leider sind solche Beispiele noch zu selten.

Wir müssen dringend differenzieren: Israelis sind vielfältig und nicht alle einer Meinung. Juden und Jüdinnen sind vielfältig und nicht alle einer Meinung. Palästinenserinnen und Palästinenser sind vielfältig und nicht alle einer Meinung. Muslime sind vielfältig und nicht alle einer Meinung. Judentum hat eine sehr lange Geschichte, die vielmehr als der Holocaust ist, gleichwohl dieser eine Zäsur darstellte. Jenseits der Verwobenheit mit deutscher Geschichte und deutschem Vergehen ist noch so viel mehr. Wir als Deutsche sollten wir uns in Demut einüben, aber auch in echtem Interesse und Offenheit für jüdisches Leben in all seinen Facetten.

Ich träume von Israelis, Palästinenserinnen und Palästinensern und Deutschen (ob Juden, Muslime oder Christen), die gemeinsam auftreten und am Projekt Frieden weiterhin Seite an Seite kämpfen. Denn das Projekt Frieden darf nicht aufgegeben werden. Schon mal nicht wegen der unzähligen Menschen auf israelischer und palästinensischer Seite, und hier in Deutschland auch auf deutscher Seite, die dieses Ideal schon leben, sich dafür in Nichtregierungsorganisationen, Kibbuzim, oder als Einzelpersonen, als Nachbarn gemeinsam engagieren und deren Arbeit jetzt Jahre zurückgeworfen wird, wenn sie nicht zum Teil auf grausamer Weise zunichte gemacht wurde.

Einer, der uns den Weg zeigt ist Lessing. In der viel zitierten Parabel der Ringe aus seinem "Nathan der Weise", den er ja in Wolfenbüttel verfasst hat, geht Lessing genau diesem Ideal nach. Der Weg zum Dialog und zum Frieden innerhalb der drei Weltreligionen - Christentum, Judentum und Islam - geht über Humanität und Toleranz.

Wir täten gut daran, uns in Wolfenbüttel und auch weit darüber hinaus dieses Ideal, das aktueller denn je ist, als Kompass zu nehmen.

Wolfenbüttel hat auch mit Leopold Zunz, der Samson Schule und weiteren Aspekten eine lange Tradition von liberalem Judentum, die die Stadt geprägt hat und die wir nicht vergessen sollten - denn sie verpflichtet.

Als Mensch sage ich entschieden: Wir dürfen den Mut nicht verlieren. Auch wenn rechtsextreme Tendenzen um sich greifen, auch wenn Antisemitismus und auch andere Formen des Rassismus und der Diskriminierung in der Gesellschaft - und auch in Wolfenbüttel - grassieren: Wir sind mehr.

Friede sei mit euch und Ihnen

Shalom aleikhem

Ghalia El Boustami

Kontakt

Bündnis gegen Rechtsextremismus

c/o Sabine Resch-Hoppstock

Lindener Straße 55
38300 Wolfenbüttel